News

Willkommen im Nachhaltigkeits-Dschungel

Bernd Hartmann, Chefstratege und Leiter CIO Office der VP Bank Gruppe
Lesedauer: 6 Min
Das Thema Nachhaltigkeit ist aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Auch bei der Geldanlage kommen Investoren nicht mehr an dem Thema vorbei. Die EU fordert seit August 2022 von Banken, dass sie die Nachhaltigkeitspräferenzen ihrer Kunden erfassen und bei Anlageentscheiden berücksichtigen.

Auch wenn in den letzten Jahren viel über Nachhaltigkeit geforscht, geschrieben und diskutiert wurde, eines hat sich noch nicht verändert: Was als "nachhaltig" erachtet wird, ist weiterhin nicht klar definiert. Die Finanzbranche setzt seit Jahren auf ESG-Ratings, welche die drei zentralen Dimensionen Umwelt (E), Soziales (S) und Unternehmensführung (G) berücksichtigen. Rating-Agenturen wie MSCI, Refinitiv, S&P oder Sustainalytics beurteilen jeweils tausende Unternehmen.

Doch bei der Messung und Gewichtung der Faktoren E, S und G besteht kein Konsens, sodass jede dieser Agenturen für ein und dasselbe Unternehmen zu unterschiedlichen Beurteilungen kommen kann. Dies haben Wissenschaftler des MIT und der Universität Zürich in einer Studie, die mit dem VP Bank Best Paper Award ausgezeichnet wurde, nachgewiesen. Die durchschnittliche Übereinstimmung über die sechs größten Rating-Agenturen hinweg liegt gerade einmal bei einer Korrelation von 0.54. Zum Vergleich: Im Bereich der Credit Ratings kommen die großen Agenturen mit einer Korrelation von 0.98 nahezu immer zum gleichen Urteil. Für Anleger ist dies sehr verwirrend und wenig vertrauenserweckend. Der europäische Gesetzgeber führt deshalb eigene, objektive Messgrößen ein.

Eine Frage der Perspektive

Bei der Beurteilung, was als nachhaltig gilt, nehmen Regulator und Finanzwirtschaft zwei unterschiedliche Perspektiven ein. Die von der Finanzbranche verwendeten ESG-Ratings fokussieren auf die finanziellen Auswirkungen des Klima- und Gesellschaftswandels auf ein Unternehmen. Dabei werden sowohl Risiken als auch Opportunitäten miteinbezogen. Viele Rating-Agenturen setzen im Zuge dessen auf eine relative Sichtweise: Es wird beurteilt, wer innerhalb der jeweiligen Branche am nachhaltigsten wirtschaftet.

Der Regulator hingegen beurteilt den Einfluss eines Unternehmens (Impact) auf Umwelt und Gesellschaft. Dabei wird zwischen negativem und positivem Beitrag unterschieden, gute Unternehmensführung spielt nur eine Nebenrolle. Anleger können wählen, welche Kriterien ihre Bank berücksichtigen soll. Die drei wesentlichen Konzepte sind die Vermeidung von nachteiligen Auswirkungen (Principal Adverse Impact – PAI), nachhaltige Investitionen gemäß der Offenlegungsverordnungen (Investments, die zum Erreichen eines Umwelt- oder sozialen Ziels beitragen) sowie die nochmals strengere Taxonomie (Tätigkeiten, die einen wesentlicher Beitrag zu einem Umweltziel leisten und strenge, branchenspezifische Anforderungen erfüllen). Als nachhaltig gilt dabei, was einen nachweislichen, positiven Beitrag leistet. Dieser Beitrag darf jedoch nicht auf Kosten eines anderen Umweltziels gehen (“Do No Significant Harm"- Kriterien) und ein Mindestschutz ("Minimum Safeguards") muss eingehalten werden.

Anders als bei ESG-Ratings wird durch die EU-Kriterien nicht gemessen, ob ein Unternehmen nachhaltig ist oder nicht, sondern wieviel Prozent seiner Tätigkeiten einen positiven Beitrag leisten. Aufgrund der unterschiedlichen Perspektiven von ESG-Ratings und der Regulatorik kann die Beurteilung eines Unternehmens auch durchaus gegensätzlich ausfallen. So erhalten die beiden Nahrungsmittelhersteller Unilever und Danone sowie der Getränkekonzern Coca-Cola mit einem AAA-Rating die Bestnote von MSCI ESG-Research. Alle drei Unternehmen erfüllen gemäß MSCI nicht die Kriterien, um als nachhaltiges Investment gemäss der Offenlegungsverordnung zu gelten. Gleiches gilt für die strengeren Taxonomie-Anforderungen. Der weltweit größte Lachsfischer SalMar hingegen erhält von MSCI mit einem BBB nur die drittschlechteste Note. In Punkto Taxonomie zählen die Norweger mit 98 % taxonomiekonformem Umsatz hingegen zu den nachhaltigsten Unternehmen.

Anleger dürften angesichts der unterschiedlichen Konzepte zur Messung der Nachhaltigkeit verwirrt sein.

Bernd Hartmann Chefstratege und Leiter CIO Office

Unterschiedliche Relevanz

Anleger dürften angesichts der unterschiedlichen Konzepte zur Messung der Nachhaltigkeit verwirrt sein. Investoren, die sich bisher noch nicht mit nachhaltigem Anlegen beschäftigt haben, werden erstmals von ihrer Bankberaterin oder ihrem Bankberater zu deren Nachhaltigkeitspräferenzen befragt. Skeptiker hingegen werden wohl befürchten, von Brüssel bevormundet und in ihren Anlageentscheiden eingeengt zu werden. Nachhaltigkeitspioniere, die bereits seit Jahren ESG-Ratings berücksichtigen, dürften sich fragen, ob sie auch in Bezug auf die regulatorische Messung eine hohe Präferenz äußern sollen. Gleichzeitig gilt es für sie zu hinterfragen, ob ESG-Ratings auch weiterhin berücksichtigt werden sollen.

Beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung, doch nicht für jeden Investor. ESG-Ratings sollten von allen Anlegern berücksichtigt werden. Als Indikator für Chancen und Risiken des Klima- und Gesellschaftswandels liefern sie einen Mehrwert für die Auswahl geeigneter Investments, denn letztlich manifestieren sich diese im zukünftigen Unternehmensgewinn. Deshalb lohnt es sich selbst für Investoren, die eigentlich keine große Nachhaltigkeits-Präferenz aufweisen, auf ESG-Ratings zu achten.

Anders verhält es sich mit den Konzepten der regulatorischen Nachhaltigkeit. Hier muss stärker zwischen den verschiedenen Anlegertypen differenziert werden. Der Großteil der Investoren dürfte angeben, dass nachteilige Auswirkungen von Investments zu beachten sind. Schließlich fallen unter die sogenannten PAIs auch Kriterien wie Arbeiterschutz und Kinderarbeit. Anleger, die auch sonst auf Nachhaltigkeit achten, sollten einen gewissen Anteil ihres Portfolios in Unternehmen anlegen, die einen Beitrag zu einem Umwelt- und/oder Sozialziel leisten. Investoren, welchen die Verwendung und Wirkung ihres Geldes ein großes Anliegen ist, sollten zusätzlich einen Teil ihres Vermögens in taxonomiekonforme Unternehmen investieren.

Das richtige Maß

Anleger müssen dabei nicht nur wählen, welches regulatorische Konzept der Nachhaltigkeit für sie wichtig ist. Zusätzlich müssen sie auch Angaben machen, zu welchem Portfolioanteil diese berücksichtigt werden sollen. Denn anders als bei den ESG-Ratings sind die regulatorischen Kriterien äußerst strikt. Die Unternehmen hatten auch noch wenig Zeit, sich nach den neuen Vorgaben auszurichten. Zusätzlich liegen erst für zwei der sechs Umweltziele der Taxonomie-Verordnung Angaben der Unternehmen vor. Von den weltweit 1.500 größten börsengehandelten Unternehmen gelten gerade einmal 208 oder knapp 14 % als nachhaltige Investition gemäß der Offenlegungsverordnung.

Noch tiefer fallen die Werte für die Taxonomie aus. Durchschnittlich 48 % des Umsatzes qualifiziert sich als taxonomiefähig. Nur 6 % des Umsatzes erfolgt jedoch nach den strengen Branchenauflagen und gilt somit als taxonomiekonform. Wer seiner Bank in bester Absicht zu ambitionierte Vorgaben erteilt, bekommt ein unausgewogenes, mangelhaft diversifiziertes Portfolio. Anleger sollten sich deshalb beraten lassen, was für ihre individuelle Vermögensaufteilung sinnvolle Mindestquoten sind.

#Nachhaltigkeit
#Unternehmensnews
#Investment Research