Auch wenn in den letzten Jahren viel über Nachhaltigkeit geforscht, geschrieben und diskutiert wurde, eines hat sich noch nicht verändert: Was als "nachhaltig" erachtet wird, ist weiterhin nicht klar definiert. Die Finanzbranche setzt seit Jahren auf ESG-Ratings, welche die drei zentralen Dimensionen Umwelt (E), Soziales (S) und Unternehmensführung (G) berücksichtigen. Rating-Agenturen wie MSCI, Refinitiv, S&P oder Sustainalytics beurteilen jeweils tausende Unternehmen.
Doch bei der Messung und Gewichtung der Faktoren E, S und G besteht kein Konsens, sodass jede dieser Agenturen für ein und dasselbe Unternehmen zu unterschiedlichen Beurteilungen kommen kann. Dies haben Wissenschaftler des MIT und der Universität Zürich in einer Studie, die mit dem VP Bank Best Paper Award ausgezeichnet wurde, nachgewiesen. Die durchschnittliche Übereinstimmung über die sechs größten Rating-Agenturen hinweg liegt gerade einmal bei einer Korrelation von 0.54. Zum Vergleich: Im Bereich der Credit Ratings kommen die großen Agenturen mit einer Korrelation von 0.98 nahezu immer zum gleichen Urteil. Für Anleger ist dies sehr verwirrend und wenig vertrauenserweckend. Der europäische Gesetzgeber führt deshalb eigene, objektive Messgrößen ein.
Eine Frage der Perspektive
Bei der Beurteilung, was als nachhaltig gilt, nehmen Regulator und Finanzwirtschaft zwei unterschiedliche Perspektiven ein. Die von der Finanzbranche verwendeten ESG-Ratings fokussieren auf die finanziellen Auswirkungen des Klima- und Gesellschaftswandels auf ein Unternehmen. Dabei werden sowohl Risiken als auch Opportunitäten miteinbezogen. Viele Rating-Agenturen setzen im Zuge dessen auf eine relative Sichtweise: Es wird beurteilt, wer innerhalb der jeweiligen Branche am nachhaltigsten wirtschaftet.
Der Regulator hingegen beurteilt den Einfluss eines Unternehmens (Impact) auf Umwelt und Gesellschaft. Dabei wird zwischen negativem und positivem Beitrag unterschieden, gute Unternehmensführung spielt nur eine Nebenrolle. Anleger können wählen, welche Kriterien ihre Bank berücksichtigen soll. Die drei wesentlichen Konzepte sind die Vermeidung von nachteiligen Auswirkungen (Principal Adverse Impact – PAI), nachhaltige Investitionen gemäß der Offenlegungsverordnungen (Investments, die zum Erreichen eines Umwelt- oder sozialen Ziels beitragen) sowie die nochmals strengere Taxonomie (Tätigkeiten, die einen wesentlicher Beitrag zu einem Umweltziel leisten und strenge, branchenspezifische Anforderungen erfüllen). Als nachhaltig gilt dabei, was einen nachweislichen, positiven Beitrag leistet. Dieser Beitrag darf jedoch nicht auf Kosten eines anderen Umweltziels gehen (“Do No Significant Harm"- Kriterien) und ein Mindestschutz ("Minimum Safeguards") muss eingehalten werden.
Anders als bei ESG-Ratings wird durch die EU-Kriterien nicht gemessen, ob ein Unternehmen nachhaltig ist oder nicht, sondern wieviel Prozent seiner Tätigkeiten einen positiven Beitrag leisten. Aufgrund der unterschiedlichen Perspektiven von ESG-Ratings und der Regulatorik kann die Beurteilung eines Unternehmens auch durchaus gegensätzlich ausfallen. So erhalten die beiden Nahrungsmittelhersteller Unilever und Danone sowie der Getränkekonzern Coca-Cola mit einem AAA-Rating die Bestnote von MSCI ESG-Research. Alle drei Unternehmen erfüllen gemäß MSCI nicht die Kriterien, um als nachhaltiges Investment gemäss der Offenlegungsverordnung zu gelten. Gleiches gilt für die strengeren Taxonomie-Anforderungen. Der weltweit größte Lachsfischer SalMar hingegen erhält von MSCI mit einem BBB nur die drittschlechteste Note. In Punkto Taxonomie zählen die Norweger mit 98 % taxonomiekonformem Umsatz hingegen zu den nachhaltigsten Unternehmen.